Abstraktion in der Kunst
14. Mai 2013
Brigitte Grawe

Je abstrakter die Kunst wird, desto mehr wird sie Kunst.
Robert Musil

Wer meine Galerien betrachtet, wird schnell sehen, dass ich überwiegend abstrakt arbeite. Dies führte dazu, dass ich mich natürlich auch mit der Entstehung dieser Kunstrichtung näher befasste. Ich recherchierte in unzähligen Quellen und las Spannendes genauso wie Unglaubliches …

Die Entdeckung der Abstraktion wurde stets dem russischen Maler Wassily Kandinsky* zugerechnet. Sein erstes abstraktes Aquarell aus dem Jahre 1910 galt als Entstehungspunkt der gegenstandslosen Kunst. Obwohl es, wie inzwischen unzweifelhaft feststeht, von 1913 auf 1910 vordatiert wurde. Seine abstrakten Bilder machten Kandinsky weltberühmt.

Doch es gibt noch einen Künstler, der als Urheber dieser Darstellungsweise gilt Francis Picabia*. Dieser Maler hat mit seinem Werk ‘Kautschuk’ im Jahre 1909 offensichtlich das frühere abstrakte Gemälde erschuf.

 

Doch wie man heute weiß, kommt keiner der Beiden als Urheber abstrakter Kunst in Frage. Diese Ehre wird einzig und allein einer Frau zuteil!

Hilma af Klint, eine 1862 in Schweden geborene Malerin

ist die tatsächliche Begründerin der abstrakten Kunst.

Sie war ihrer Zeit und vor allem Kandinsky; Picabia und Mondrian weit voraus.  Mehr als 1000 Gemälde, Skizzen und Aquarelle hat sie gemalt. und vor den noch heute als Pionieren dieser Kunstform geltenden Kollegen die Malerei revolutioniert.  1906 entstand ihre erste Serie  leinformatiger abstrakter Bilder.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dass dies so lange unbeachtet blieb, liegt an einer testamentarischen Verfügung der Künstlerin. Mit 70 Jahren verfügte sei, dass die Werke erst 20 Jahre nach ihrem Tod ausgestellt werden durften. So gelangten sie erstmalig Mitte der 1980er Jahre an die Öffentlichkeit. Bleibt abzuwarten, wann die Kunstgeschichte endlich entsprechend umgeschrieben wird.

Dass Kandinsky die abstrakte Bilddarstellung

für sich entdeckte, wundert mich nicht.

Ich wage die These aufzustellen, dass die Tatsache, dass er Synästhetiker war, zu dieser, vielleicht zwangsläufigen, Entwicklung führte. Synästhesie ist, einfach ausgedrückt, eine Kopplung zweier physischer Wahrnehmungsbereiche, bzw. Sinnesreize in den Verarbeitungszentren des Gehirns.

Bei Kandinsky bewirkte diese Kopplung, dass er Farben nicht nur als optische, sondern z. B. auch als akustische Reize wahrnahm. Doch ordnete er Farben darüber hinaus auch Gerüche oder Formen zu. So war Gelb für ihn eine „spitze“ Farbe.

Diese andere Art der Wahrnehmung hatte natürlich immensen Einfluss auf seine künstlerische Entwicklung. Die Synästhesie war logischerweise ein untrennbarer Teil davon. So wollte er beispielsweise seine Bilder malen, wie man Musik komponiert und sprach in diesem Zusammenhang auch von ‘Farbklängen’.

Kandinskys künstlerisches Schaffen musste aus meiner Sicht beinahe ‚zwangsläufig‘ in die abstrakte Bilddarstellung führen, denn schon seine Wahrnehmung war in gewisser Weise abstrakt.

Für mich als Künstlerin ist die abstrakte Darstellung reizvoller, bzw. herausfordernder als gegenständliche Kunst. Sie regt die menschliche Fantasie wesentlich stärker an. Ein Bild, das nicht auf den ersten Blick seinen Inhalt preisgibt, beschäftigt den Betrachter auf andere Art und Weise und vor allem immer wieder neu. Ein weiterer Vorteil ist die beinahe grenzenlose Gestaltungsmöglichkeit, die sich frei von jeglichem Realitätsanspruch entfalten kann.

 Eine interessante Ansicht zum Thema Abstraktion vertritt der

Wissenschaftshistoriker und Publizist Ernst Peter Fischer*

Er sieht einen engen Zusammenhang zwischen der Entstehung abstrakter Kunst und damaliger Wissenschaft. Er schreibt dazu: “Was die Natur unseren Augen bietet, besteht in Wirklichkeit aus Atomen und Atome bestehen in Wirklichkeit aus symmetrischen Formen voller Energie. Wenn also ein Maler die Wirklichkeit abbilden will, muss er abstrakt malen … Es ist ein erstaunlicher und nach wie vor unverstandener Vorgang, der sich um 1900 in der Kultur Europas vollzieht. Sowohl die Naturwissenschaften als auch die Kunst verlieren ihren Gegenstand, indem sie ihn durchschauen u. hinter diesem Fenster neue Formen finden.”*

 

*Wassily Kandinsky: 1866-1944, russischer Maler, Grafiker und Kunsttheoretiker

*Francis Picabia 1879-1953 eigentlich Francis-Marie Martinez Picabia, französischer Schriftsteller, Maler und Grafiker

*Ernst Peter Fischer: geb. 1947, deutscher Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftspublizist

* Zitat: Ernst Peter Fischer: Umbrüche. Parallelen in Kunst und Wissenschaft. – in: Neuroästhetik. Hrsg. v. Martin Dresler. – Seemann, 2009

Literatur- u. Linkliste

 

  • Dietmar Elger: Abstrakte Kunst. Taschen, Köln 2008. – ISBN 9783822856178
  • Blok, Cor: Geschichte der abstrakten Kunst 1900-1960. – Köln: DuMont Schauberg, 1975. – ISBN  9783770108534
  • Brion, Marcel: Geschichte der abstrakten Malerei. – Köln: DuMont Schauberg, 1956