Neuroästhetik
14. Mai 2013
Brigitte Grawe
Ästhetik kann so wenig zur Tugend verhelfen, als eine vollständige
Ästhetik lehren kann, Kunstwerke hervorzubringen.
Arthur Schopenhauer

Allgemeingebräuchlich ist der Begriff Ästhetik (Aisthesis: Griechisch = Wahrnehmung) zunächst einmal mit Synonymen wie apart, feinsinnig, formvollendet, geschmackvoll, kunstvoll, stilvoll, schön, usw. verknüpft. Wir verwenden dieses Wort i.d.R. im Zusammenhang mit Schönheit. Doch ursprünglich ist es ein rein wissenschaftlicher Begriff. Er wurde erstmals 1735 von Alexander Gottlieb Baumgarten, einem der bedeutendsten Philosophen des 18. Jahrhunderts, in seiner Dissertation verwandt.

Er verstand darunter die ‘Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis’, und begründete damit eine eigenständige philosophische Disziplin. Seine Definition ging dabei über die Kunst hinaus. Sein bedeutendstes Werk zur Ästhetik ist die Aesthetica (1750/58). Damit verfasste er eine Schrift epochaler Bedeutung, die maßgeblich die Entwicklung von Ästhetik und Kunsttheorie im 18. Jahrhundert beeinflusste.  Doch was bedeutet nun Neuroästhetik?

Neuroästhetik könnte man kurz gefaßt als Schulterschluss von
Neurobiologie, Ästhetik und Kunst definieren.

Neuroästhetik gilt noch immer als junger Zweig der Neurowissenschaften. Dabei liegen ihre Wurzeln schon mehr als 40 Jahre zurück. Es war 1979, als die neue Disziplin durch den deutschen Psychologen und Hirnforscher Ernst Pöppel* mit der Gründung der Studiengruppe „Biological Aspects of Beauty“ ins Leben gerufen wurde. Definiert wurde sie damals als Erforschung von Fähigkeiten im Umfeld von Kunst & Ästhetik sowie der Förderung der Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Wissenschaftlern.

Fast 30 Jahre später, erhielt das Kind einen Namen. 2008 wurde das Londoner Institute of Neuroesthetics am University College London eröffnet. Begründer ist Semir Zeki, Neurobiologie und seit März 2008 der erste Professor für Neuroästhetik. Lt. Vilayanur S. Ramachandran* wurde von ihm der Begriff  ‘Neuroästhetik’ erfunden, um „Philosophen und Geisteswissenschaftler zu ärgern“.

Kurze Zeit später, ebenfalls 2008, wurde an der Berliner Charité der gemeinnützige Verein Association of Neuroesthetics – a Platform of Arts and Neuroscience gegründet. Initiator und Ansprechpartner des Vereins ist Alexander Abbushi, Arzt an der “Klinik für Neurochirurgie” am Virchow-Klinikum der Berliner Charité. Ernst Pöppel und Semir Zeki sind Gründungsmitglieder.

Abbushi definiert ‚Neuroästhetik‘ kurz gefasst wie folgt: “Erforschung der neurologischen Grundlagen von Kreativität, Ästhetik und Kunstwahrnehmung und subjektiven Bewusstseinszuständen wie Liebe, Hass, Schönheit.” D.h., sie versucht kreative Prozesse als Ausdruck der Hirnfunktionen zu verstehen und ästhetische Wahrnehmung auf neurobiologische Grundlagen zurückzuführen sowie durch die Betrachtung künstlerischer Arbeiten Erkenntnisse über die Organisation des Gehirns zu gewinnen.

Ein wichtiges Ziel ist auch heute noch, die Ergebnisse Künstlern zur
Verfügung zu stellen und so beide Seiten zusammenzubringen.

Forschungen der Neurobiologie zur Ästhetik erfreuen sich verständlicherweise auch eines großen Interesses mancher Industriezweige. Design, Werbung und andere können durchaus wirtschaftlichen Nutzen aus diesen wissenschaftlichen Studien ziehen. Von der Kunstwelt wird Neuroästhetik zweigeteilt aufgenommen, von einigen Künstlern sehr scharf kritisiert.

Offenbar befürchten sie, dass neurowissenschaftliche Erkenntnisse die Kunst ‘end-mystifizieren’ könnten. Vielleicht stellten sich Kunstwerke tatsächlich als neurobiologisches Produkt heraus? Aber da sagt Alexander Abbushi ganz klar, “es gehe nicht darum die Kunst auf eine Formel zu reduzieren, sondern mehr über sie zu erfahren.”

Doch es gibt auch Befürworter,
zu denen zähle ich mich ebenfalls.

Für uns ist es spannend und durchaus konstruktiv, wissenschaftliche Erkenntnisse der Neurowissenschaft in die künstlerische Arbeit einfließen lassen zu können. Zudem steht außer Frage, dass sich einige der ganz großen Künstler, ohne es zu wissen, bereits mit neurobiologischen Aspekten befasst haben.

Semir Zeki nennt als ein Beispiel Picasso. Der habe mit seinen Überlegungen zu bestimmten Darstellungsmöglichkeiten im Kubismus eigentlich nichts anderes gemacht, als sich mit dem neurobiologischen Problem der Formenkonstanz zu beschäftigen.

Künstler des Abendlandes befassten sich mit den Schriften des arabischen Mathematikers Alhazen zur Optik, Lichtbrechung und -reflexion. Dadurch erlangten sie Kenntnisse, die es ihnen ermöglichten die perfekte Illusion eines dreidimensionalen Raumes zu inszenieren.*1

 Mir hat die Neurowissenschaft, speziell im Bereich Op-art, spannende Erklärungen liefern können, die ich nicht nur praktisch zu nutzen versuche. Zu wissen, wie und warum optische Täuschungen funktionieren ist fantastisch.

Die Aussicht auf mit der Wissenschaft wachsende Möglichkeiten macht mir als Künstlerin unstillbare Lust auf mehr. Die Schnittstellen beider Bereiche haben mich untrennbar in ihren Bann gezogen.

Um über den aktuellen Forschungsstand im Bilde zu sein, recherchiere ich regelmäßig in Fachdatenbanken, Bibliothekskatalogen und Internet. Einige Forschungszeitschriften beziehe ich inzwischen regelmäßig.

 

*Ernst Pöppel: (geb. 1940) Prof. Dr. Phil. Dr. med. habil., Institut für medizinische Psychologie und Vorstandsvorsitzender des Humanwissenschaftlichen Zentrums der Universität München.

*Vilayanur S. Ramachandran: (geb. 1951) Direktor des ‘Center for Brain and Cognition’ in San Diego und Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der University of California

eMotion” Das psychogeografisch kartierte Museum: Ein spannendes Projekt des Instituts für Design- und Kunstforschung der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel wurde unter der Leitung des Kulturwissenschaftlers Prof. Dr. Martin Tröndle durchgeführt. Grundlage waren dabei experimentell an Besuchern des Kunstmuseums von Sankt Gallen durchgeführte Messungen. Die freiwilligen Teilnehmer trugen dazu ein Messgerät in Form eines Armbandes. Erfasst wurde dadurch z.B. Gehgeschwindigkeit, Verweildauer, Wegwahl, emotionale und kognitive Reaktionen. Unterstützt wurde die Auswertung dieser Daten durch eine zusätzliche Befragung der Testpersonen. Ziel ist es, die “psychogeografische Wirkung” der Räumlichkeiten und Kunstobjekte auf Besucher zu analysieren. Für mich ist daran besonders interessant, dass hier Interaktion von Wissenschaft & Kunst eine transdisziplinäre Studie ermöglichte. Die Ergebnisse sind ebenfalls auf der Websetie veröffentlicht.

*Hinweis:

Institute of neuroesthetics attached to the Wellcome Laboratory of Neurobiology (Vislab)
(Leiter: Prof. Semir Zeki) – at University College London
Dort wurden mehrere Jahre einige meiner Op-Art-Bilder präsentiert.

 

Literatur- und Linkliste

 

  • Martin Dresler: Neuroästhetik. Kunst – Gehirn – Wissenschaft. – Seemann: Leipzig, 2009.  144 S., 43 farb. u. 41 S/W-Abb. – ISBN 978-3-86502-216-5
  • Svenja Flasspöhler: Wie viel Ästhetik braucht der Mensch?  : Monopol, 29.04.2010
  • *1Vilayanur Ramachandran: Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn. – Rowohlt, 2005. – ISBN: 9783499619878
  • Zeki, Semi: Glanz und Elend des Gehirns : Neurobiologie im Spiegel v., Kunst, Musik u. Literatur / aus d. engl. v. Ulrike Bischoff. – München [u.a.]: Reinhardt, 2009.  –   ISBN 978-3-497-02119-2
    • ‘Neuro-Ästhetik und Kunst-Schönheit(en)’: Leserartikel v. Werner Hahn. – Die Zeit. – 08.07.2008
    • Association of Neuroesthetics – a Platform of Arts and Neuroscience
    • Neurobiologie der Schönheit – Handelsblatt: 24.07.2008
    • Verändert Schönheit unser Gehirn? – FAZ: 02.07.2008
    • Was Neurobiologen sehen, wenn sie Kunst sehen – FAZ: 13.06.2008
    • Im Nebelgebiet des Geistes – 05.06.2008
    • Die Neuroesthetik fragt, was Menschen als schön empfinden – Märkische Allgemeine Zeitung: 22.05.2008
    • Kunst ist ein Neuronenfeuer – Die Zeit: 15.05.2008
    • Beim Gründungskongress der Neuroästheten – Der Tagesspiegel: 10.05.2008
    • Londoner Institute of Neuroesthetics:
      • zahlreiche Volltext-Fachartikel (teilw. in ital. sprache)
      • Literaturverweise auf Special-issues und Bücher
      • “The Journal of Neuroesthetics” (in Kürze)