Wahrnehmung
14. Mai 2013
Brigitte Grawe

Kunst & Wahrnehmung

Sinnlichkeit & Wissenschaft

Das Thema Kunst, insbesondere Kunstwahrnehmung kann man mit philosophischem Auge betrachten, aber auch neurowissenschaftlich verstehen und erforschen. Diesen Kontext finde ich unglaublich spannend. Er bildet eine wichtige Schnittstelle zwischen Kunst & Wissenschaft in meinen Bildern und eröffnete mir eine neue (Kunst)Welt.

Unter dem Begriff Wahrnehmung versteht man die Fähigkeit, Sinnesreize zu erkennen, zu unterscheiden und durch Vergleichen mit früheren Erfahrungen zu interpretieren. Letzteres erfolgt im Gehirn.

Dazu generiert es basierend auf allen ihm zur Verfügung stehenden Informationen fortlaufend ein Modell der Wirklichkeit. Das fällt je nach Beobachter unterschiedlich aus. Dabei spielen der jeweilige (kulturelle) Standpunkt, Kenntnisse, Fähigkeiten und Erwartungen eine wichtige Rolle.

Dieses Modell ist für uns die Realität,

die wir wahrnehmen, wenn wir sehen.

Nach diesem Prinzip finden wir uns in unserer Umwelt wunderbar zurecht. Der komplexe Prozess der Wahrnehmung läuft in der Regel unterbewusst ab. Nur selten machen wir uns Gedanken darüber. Man könnte es auch als eine  Art Autopiloten unseres Gehirns bezeichnen. Er steuert unsere Bewegungsabläufe genauso wie unser Denken.

Da mich dieses Thema vor allem im künstlerischen Kontext interessiert, habe ich mich speziell der visuellen Wahrnehmung zugewandt.

Fast 80 % aller Informationen aus der

Umwelt liefern uns die Augen.

Dabei sind sie nur ein Teil des komplexen Systems visueller Wahrnehmung. Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über die Funktionen unseres Gehirns führten auch zu einer neuen Definition des Sehens. So bezeichnet Semir Zeki* unser Sehen im Wesentlichen als eine Form des Denkens. Doch wie funktioniert das eigentlich genau? Kurz und verständlich habe ich diesen Prozess im folgenden Abschnitt zusammengefasst.

Durch Iris und Linse gelangen alle optischen

Informationen zunächst auf die Netzhaut.

Dort beginnt die neuronale Bildverarbeitung. Die Netzhaut ist ein Teil der Großhirnrinde. Sie besteht aus insgesamt fünf Neuronenschichten. Diese selektiert eingehende Reize nach Wichtigkeit und wandelt sie für die Weiterreise in elektrische Impulse um. Über den Sehnerv werden die Signale aus dem Auge heraus zum eigentlichen ‚Erkennungsdienst‘ weitergeleitet.

Die erste Station sind die sogenannten Kniekörper. Hier werden die eingehenden Informationen, aufgeteilt nach Farbe, Form, Bewegungs- und Rauminformationen, über Synapsen zur Sehrinde geschickt, einem Teil des visuellen Cortex. Dort werden die Eigenschaften des Reizobjektes analysiert und mit bereits gespeicherten Informationsmerkmalen abgeglichen, um den Prozess des Erkennens mit der Erinnerung zu verknüpfen.

Das alles geschieht blitzschnell und von uns unbemerkt.

Wir registrieren bewusst nur das Ergebnis; das ‚fertige Bild‘. Ein ausgesprochen leistungsstarker Vorgang, der da abläuft, während wir entspannt ein Kunstwerk betrachten. Eine faszinierende, aber auch abstrakte Vorstellung. Kunst, egal ob aus der Perspektive des Schaffenden oder aus der des Betrachters gesehen, ist demnach nichts anderes als ein Wahrnehmungsprozess.

Während der Kunstschaffende Wahrnehmungsstrukturen wie Helligkeit, Farbe, Kontrast, Linien, Form u. Gestalt, Bewegung u. Räumlichkeit gestaltet, fällt dem Kunstbetrachter die Rolle des ’Empfängers‘ dieser Sinnesreize zu.

Und natürlich mischen sich dazu die jeweiligen

Gefühle, die Kunst in uns auslöst.

Auch das betrifft den Künstler ebenso wie den Betrachter. Schauen wir ein Bild an, findet innerhalb von 100 Millisekunden eine emotionale Bewertung der visuellen Daten im Stammhirn statt. Dazu gibt es in Kürze einen separaten Beitrag.

So weit so gut, könnte man denken. Was aber, wenn das betrachtete Bild nicht den gängigen abgespeicherten Informationsmerkmalen entspricht? Denn gerade Kunst hält sich ja nicht unbedingt an die Abbildung von Realität. So ist beispielsweise Op-art eine Kunstform, die den Betrachter auffordert, traditionelle Sehmuster aufzubrechen.

Widersprüchliche Hinweisreize wie z.B. die Perspektiven auf dem Bild links leiten das Gehirn in die Irre. Was also passiert, wenn wir keine, oder nur unzureichende Erfahrungen mit bestimmten Sinneseindrücken haben? Näheres dazu können Sie im Bereich Op-Art erfahren.

Gut gefällt mir folgende These eines Psychologen der Univ. Liverpool,
Richard Letto zur Wahrnehmung abstrakter Kunst.

Er geht davon aus, dass sie den Betrachter, aufgrund eines speziellen Mechanismus im Gehirn, mit guten Gefühlen belohne. Ausgelöst werde dies seiner Meinung nach, weil die abstrakten Linien, Formen und Flächen einen starken Stimulus für die Sehnerven darstellen. Dieser Vorgang aktiviert anscheinend das Belohnungszentrum, welches daraufhin Dopamin ausschüttet.

Wissenschaftler des Forschungszentrums Jülich sowie der Universität Düsseldorf und der RWTH Aachen fanden heraus, dass die Sehzentren von Mann und Frau Unterschiede aufweisen. Dies führt wahrscheinlich zu verschiedenen Strategien der Geschlechter bei der Orientierung. Bei der mikroskopischen Untersuchung fanden die Wissenschaftler Unterschiede in den Arealen, die für das Erkennen von Bewegungen zuständig sind.

Manche Bereiche waren bei Frauen,
manche bei Männern größer.

Karin Amunts** erklärte dazu: „Ein größeres Volumen könnte dem Gehirn mehr Raum geben, um an dieser Stelle zusätzliche Informationen zu verarbeiten und sich Bewegung räumlich vorzustellen. Dies müsse jedoch nicht bedeuten, dass Männer etwas besser können als Frauen oder umgekehrt. Sie weisen eher darauf hin, dass sie unterschiedliche Strategien haben, um zum Ziel zu kommen, also verschiedene Vernetzungen im Gehirn nutzen“.

Zum Ergebnis, dass Frauen Kunst anders betrachten als Männer,
kam eine Forschergruppe der Universität Palma de Mallorca.

Jeweils 10 Probanden sollten städtische und ländliche Szenerien als ‚schön, bzw. ‚nicht schön‘ einstufen. Während die Männer dazu ausschließlich die rechte Hemisphäre nutzten, waren bei Frauen beide Gehirnhälften aktiviert. Die Studie mit Hilfe eines Magnetenzephalographen ergab, dass davon die Bewertung im Gehirn und nicht die unmittelbare Wahrnehmung betroffen war.

Das passt, denn Neurowissenschaften gehen schon länger davon aus, dass auch die Einteilung räumlicher Beziehungen Geschlechterunterschiede aufweist. So nehmen Frauen eher eine kategorische Aufteilung nach vorne, hinten, oben, unten, innen und außen vor, was eher in der linken Hirnhälfte geschieht.

Während Männer exakte Distanzen zwischen den betrachteten Objekten wie in einem Koordinatensystem abspeichern, für das wiederum vorrangig die rechte Hemisphäre zuständig ist.

Ich bin gespannt, welche Erkenntnisse die Neurowissenschaften noch zum Thema Wahrnehmung herausfinden werden. Mal sehen, über was ich hier noch berichten kann …

 

*Semir Zeki: engl. Neurobiologe, mit Forschungsschwerpunkten im Bereich Visuelles System, der visuellen Wahrnehmung durch das Gehirn, sowie den neurobiologischen Grundlagen für Kunst und Ästhetik, Prof. für Hirnforschung am Univ. College London

**Univ.-Prof. Dr. med. Katrin Amunts,  Professorin für Hirnforschung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Direktorin des Cécile und Oskar Vogt-Instituts für Hirnforschung des Universitätsklinikums Düsseldorf. Seit 2008 ist sie außerdem Direktorin des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin (INM-1) am Forschungszentrum Jülich.

 

 
Literatur- u. Linkliste